Kristalle wachsen nur im Hohlraum

Haben Kinderträume die Kraft, gelungene Lebensträume zu werden? Der Schlüssel zu dieser Antwort liegt in der Frage: Wie viel Fantasie fördern wir in der Seele unserer Kinder?
Stanislaus Klemm (Psychologe und Theologe)

Fantasie umfasst die ganze Welt

 „Und ich habe viel über die Kinder nachgedacht, die mit ihren weißen Kieseln spielen und sie verwandeln: Sieh doch, sagen sie, dort marschiert ein Heer, und dort sind die Herden: Der Vorübergehende aber, der nur Steine sieht, weiß nichts vom Reichtum ihrer Herzen.“ (Antoine de Saint-Exupéry)
Kinder verfügen noch über einen Schatz, der im Leben von Erwachsenen verlorenzugehen droht oder vielfach bereits verloren ist: Fantasie, der Stoff, aus dem das Spielen und das Träumen seine Kraft und Energie beziehen. Der Alltag von Erwachsenen ist geprägt von Pflichten, Sachzwängen und Notwendigkeiten. Zu gelingendem Leben gehören notwendig aber auch Gegenkräfte wie Freiheit,  Kreativität,  Spontaneität;  es  braucht  Räume des Ausprobierens, des Spielens, des Erhofften und des noch nicht Gewordenen, eben des Träumens. Das alles stellt die Fantasie verschwenderisch zur Verfügung. Wer jegliche Fantasiekräfte in der Kinder- und Jugendzeit fördert, fördert damit zugleich die Entwicklung von Lebensträumen. Starke Fantasie schafft starke Träume, starke Träume ermöglichen gelungenes Leben.

Dabei existieren Fantasie und Realität nicht als zwei völlig losgelöste, unabhängige Welten. Vielmehr sind sie zwei andersartige, sich immer wieder ergänzende Sichtweisen der einen Wahrheit. Die menschliche Fähigkeit zur Fantasie darf nicht gegen das „objektive“ Wissen au gespielt werden. Schon Albert Einstein gab zu bedenken: Wissen sei begrenzt, Fantasie dagegen „umfasst die ganze Welt“. Zumal für Kinder sind die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie noch weit offen; diese Chance gilt es für das spätere Leben zu nutzen, in dem die Sach- zwänge (scheinbar?) immer mehr überhand nehmen. Kinder und Jugendliche brauchen die Freiheit, Sachzwänge einfach mal auszublenden, neue, nicht bewiese- ne, traumhafte Realitäten auszuprobieren, neue Wege zu wagen. Sie (und wir Erwachsene) brauchen nicht immer die vollgepackten Räume, um sich reich und sicher zu fühlen; genauso dringend brauchen sie Freiräume, die Leere. Auch die Natur lässt nur in den Hohlräumen eines Gesteins fantastische Kristalle wachsen; genauso tun Eltern und andere Erwachsene gut daran, die Lebens- und vor allem die Spiel- und Traumwelt ihrer Kinder nicht mit Schablonen zuzustopfen, die sie nur „lernen“ und ausfüllen müssen. Dazu gehören randvoll und lückenlos organisierte Freizeitaktivitäten und ein Überangebot an „Events“ ebenso wie Knopfdruck-Spiele, die nur Reaktionen erfordern und Kindern keinen Spielraum für eigene Ideen lassen. Auch erwachsene Vorgaben nach dem Motto: „Ich weiß, was gut für dich ist, welchen Beruf du erlernen solltest …“, können Kinderträume schon früh überdecken und ersticken. Angesagt ist dagegen alles, was Kindern ermöglicht, kreative Zugänge, spielerische Leichtigkeit und fantasievolle Lösungen für Alltagssituationen auszuprobieren.

Zwischen Traum und Wirklichkeit

Auf die Kinder von heute kommt eine ganze Menge zu, das ihre gesamten geistigen und seelischen Kräfte beansprucht: schulischer und beruflicher Stress, Umwälzungen in Gesellschaft und Kirche, die bis in den Alltag der Familien hineinwirken. Gut deshalb, wenn sie genügend Zeit und Gelegenheit finden, sich spielerisch, träumerisch auf diese Anforderungen vorzubereiten. Fantasiespiele fordern (und fördern) ein hohes Maß an sozialer Kompetenz; Kinder können darin Gefühle, Wünsche und Erwartungen verarbeiten und ihre Vorstellungskraft entwickeln. In „Als-ob-Spielen“ wie Verkleiden oder Schauspielern und in Tagträumen können sie nicht nur das „echte“ Leben nachspielen, sondern auch in fremde Rollen schlüpfen und ungewohnte Lösungen ausprobieren. Sie können böse Hexen besiegen, Kätzchen retten, können  helfen,  beschützen,  um  Hilfe  rufen …  Diese Erfahrungen geben ihnen das Selbstvertrauen und die Kraft, ungewöhnliche oder beängstigende Situationen zu bestehen.

Aber, bei aller Würdigung der Fantasie: Auch das Träumen muss irgendwo aufhören und die Realität zu ihrem Recht kommen. Zwar darf die Lebenswirklichkeit nie den Lebenstraum ausschließen, umgekehrt der Lebenstraum aber auch nie in eine Flucht vor der Wirklichkeit münden. Wobei sich das wünschenswerte Gleichgewicht von Traum und Wirklichkeit statisch nicht ein für alle Mal herstellen lässt, sondern immer wieder neues Abwägen und Austarieren erfordert. So kommt es bei der Neigung vieler Jugendlicher zum exzessiven Computerspielen entscheidend auf die Motivation der Spieler an. Fatal wäre es, wenn sie das Spielen benutzen, um einer Lösung realer Aufgaben und Probleme auszuweichen und ersatzweise Lob und Anerkennung dafür suchen, dass sie virtuelle Probleme am PC lösen und den nächst höheren Leistungs-Level erreichen. Dann drohen sie in einen Teufelskreis zu geraten, weil sich die realen Probleme derweil nicht von selbst lösen, sondern im Gegenteil immer gravierender aufstauen. Hier wäre Träumen eine Lebensverweigerung, eine Scheinwelt und eben keine Lebenshilfe.

Zerplatzte Träume

Auch manche andere Jugendträume können wie Seifenblasen jäh und unerwartet platzen oder in einen Albtraum ausarten. Mädchen verfallen einem unnatürlichen  Abmagerungs-  oder  Schönheitszwang,  weil  sie „Germany’s  next  Topmodel “  werden  möchten  (oder gerade weil sie es nicht geworden sind). Schlimm ist auch, wenn Jugendliche nicht mehr einschätzen können, wie sie sich etwa bei „DSDS “ zur Witzfigur machen lassen. Solche Albträume möchten verantwortungsvolle Erwachsene ihnen mit Recht ersparen. Eines müssen sie dabei allerdings bedenken: Sie haben zwar die Pflicht und eine große Verantwortung, Jugendlichen solche Träume mit der Ernsthaftigkeit sachlicher Argumente und ehrlichem Engagement auszureden. Wenn die Jugendlichen diesen Einwänden nicht mehr zugänglich sind, müssen sie aber auch die möglichen Konsequenzen ihrer Träume aushalten. Die Erfahrung zeigt nämlich: Zerplatzte Träume tun weniger weh und werden besser verkraftet als das depressionsgefährdete Lebensgefühl, einen Traum nie ausprobiert zu haben. Auch wenn die Selbstbestimmung von Jugendlichen nicht immer zu Ergebnissen führt, die Erwachsene sich vorstellen – sie sind ein hohes Gut. Der Versuch, anderen falsche Träume auszureden, ist erlaubt; aber niemand darf anderen ihre Träume wegnehmen. Der Arzt und Psychotherapeut Matthias Jung weist darauf hin: Es ist nicht „das Leben selbst“, das uns zerstören kann, sondern es ist eher „das nicht gelebte Leben“.   

Stanislaus Klemm