Üben, üben, üben

Gutes Leben in der Familie ist nicht einfach Glücksache. So wie Sportler oder Balletttänzer brauchen auch Ehefrauen, Väter und Töchter ständiges Training, damit es gelingt.

Was ist eigentlich „ein gutes Leben“?

Gutes Leben: Das klingt in meinen Ohren schon gleich mal viel versprechend. So nach: Da geht’s mir gut. Da hab’ ich alles, was ich brauche. Da lasse ich’s mir gut gehen.

Dass es mit dem guten Leben nicht ganz so einfach ist, wird mir aber ziemlich schnell klar, wenn ich auf die eigene Lebenswirklichkeit schaue: Jedenfalls klappt es mit diesem „guten Leben“ nicht so reibungslos. Irgendwie hält mich, gerade bei einer „familiär gebundenen“ Lebensweise, immer irgendetwas davon ab, mir’s einfach gut gehen zu lassen. Selbst die Urlaubszeit, dieser gutbürgerliche Inbegriff von „gutem Leben“, hat so manche Tücken, nicht zuletzt gerade weil die Erwartungen an eine gute, erholsame, erlebnisreiche, gemeinschaftsfördernde, erfüllende Zeit so hoch geschraubt sind. Bei uns geht das meistens schief, und ich habe gute Gründe für die Annahme, dass wir damit nicht alleine sind.

Und das schon seit alters her. Immerhin haben sich die Philosophen und Ethiker seit jeher den Kopf darüber zerbrochen wie Aristoteles, der diesen Begriff in die klassische Diskussion einführte und rätselte: „Daher wirft sich auch die Frage auf, ob die Glückseligkeit durch Lernen, Gewöhnung oder sonst eine Übung erworben, oder durch eine göttliche Fügung oder auch durch Zufall dem Menschen zuteil wird.“ (Nikomachische Ethik 1099b). Was also meint „gutes Leben“ in dieser Diskussion? Und vor allem: Was können diese Überlegungen dazu beitragen, heute im Familienalltag etwas in diese Richtung zu bewirken?

Kampf statt dolce far niente

Wenn wir schon bei Aristoteles anfangen: Für ihn hatte das gute Leben immer sehr eng mit dem guten Handeln zu tun. Er konnte sich ein gutes Leben gar nicht anders vorstellen als ein Leben in Tätigkeit auf das Gute hin, weil das Gute ja immer die Bedeutung des Zieles hat, auf das ich mich ausrichte und das ich zu erreichen suche. Das Gute ist das, was mich in meinem Handeln motiviert. „Gutes Leben“ ist also gerade nicht dolce far niente, süßes Nichtstun. Ein gutes Leben ist vielmehr ein Leben, das danach trachtet, zu verwirklichen, was an Gutem möglich ist, ist Leben in Ausrichtung auf das „Sein-Können“ menschlichen Lebens.

Besonders im Hinblick auf das Leben in Ehe und Familie taucht immer wieder auch das Wort „Gelingen“ auf. Wir müssen nicht erst große philosophische Begründungstheorien auffahren, um eine Vorstellung davon zu haben, was „gelingendes Leben“ in Ehe und Familie heißen kann: Die Paarbeziehung soll halten. Die Partner sollen sich miteinander und nicht auseinander oder gegeneinander entwickeln. Die Kinder sollen gedeihen und ihren Weg ins Leben finden. Die Familie soll über die Generationen hin einen Zusammenhalt finden, der niemanden erdrückt und sich in den Höhen und Tiefen des Lebens doch als belastbar bewährt.

Bleibt allerdings Aristoteles’ Frage: Kann unser eigenes Tun und Handeln das überhaupt entscheidend beeinflussen? Oder ist das Gelingen nicht vielmehr ein glücklicher Umstand, der einem ebenso unverschuldet wie unverdient zufällt oder auch wieder verloren geht?

Und: Was heißt eigentlich „Handeln“? Von der Verhaltenspsychologie über die Neurophysiologie bis hin zur Genetik erklären die modernen empirischen Naturwissenschaften uns heute doch tagein, tagaus, dass unser Handeln von äußeren Einflüssen bedingt und somit nichts weiter als deren Ergebnis ist. Ist „gutes Leben“ angesichts solcher Fakten eigentlich noch eine brauchbare Leitvorstellung? Oder ist es nicht einfach ein Zufallsergebnis?

Auf dem Weg zur virtuosen Mutter

Für die Theoretiker des „guten Lebens“ war immer klar, dass es eine ganze Menge von äußeren Einflüssen gibt, die unser Handeln mitbestimmen und unsere Handlungsfreiheit eingrenzen. Aber ebenso zäh haben sie immer auch gegen alle Einwände daran festgehalten, dass Menschen diesen Einflüssen nicht völlig unfrei ausgeliefert sind. Wir können aus uns selbst, aus unserer Entscheidung heraus etwas tun und damit auch etwas zum Gelingen des „guten Lebens“ beitragen. Das ist nicht immer einfach und das geht auch nicht immer von hier auf gleich. Aber gut zu leben heißt eben auch, nicht einfach die Segel zu streichen. Paulus spricht an einer Stelle davon, „den guten Kampf zu kämpfen“.

Die klassische Denk- und Handlungsfigur für den eigenen Beitrag zum guten Leben heißt „Tugend“. Gerade weil der Begriff schon so verstaubt wirkt, lohnt sich ein Blick darauf. „Tugend“ hat natürlich mit dem Handeln in Ausrichtung auf das Gute zu tun. Aber der Begriff meint noch mehr. „Tugend“ ist, so Thomas von Aquin, eine Leichtigkeit im Handeln, die auf Einübung beruht: Wer ein Musikinstrument gut spielen will, der muss üben. In einem Interview mit einem berühmten Tänzer las ich einmal: Der virtuose Tänzer müsse die technischen Anforderungen seines Tanzes zunächst bis ins Detail akribisch einüben. Zum Schluss müsse er jedoch alle Technik völlig vergessen und nur noch aus dem Gefühl heraus tanzen.

Familienbildung und Selbstkritik

Das ist ziemlich genau das, was „Tugend“ (lateinisch: virtus!) meint. Beim virtuosen Tänzer leuchtet jedem ein, dass es so gehen muss – und beim „virtuosen Ehemann“ oder der „virtuosen Mutter“? Sträubt sich da etwas? Natürlich, Vater, Ehefrau oder auch Tochter sein ist etwas anderes als Tänzer oder Pianistin. Familie ist eine Lebenswirklichkeit für sich. Aber hat gutes, gelingendes Leben in der Familie nicht auch etwas mit Einüben, mit Kompetenzen entwickeln, mit der Entfaltung eigener Stärken und der Arbeit an eigenen Schwächen zu tun?

Die alte Theorie von den Tugenden ermutigt dazu: Es lohnt sich, sich ’reinzuhängen; es zahlt sich nicht nur beim Sport aus, sich selbst etwas abzuverlangen und „dran zu bleiben“, sondern eben auch für ein gutes Leben! Trainingsgelegenheiten dafür gibt es ja schon im Familienalltag zur Genüge, und die Angebote der Familienbildung und -beratung bieten eine Fülle weiterer Möglichkeiten.

Es geht aber, das glaube ich jedenfalls, nicht allein um eine häufige Teilnahme an Bildungsangeboten. Es geht bei der Leitvorstellung vom „guten Leben“ darüber hinaus auch um eine Grundhaltung von Offenheit des Geistes, um die Bereitschaft, immer wieder an sich zu arbeiten, sich und seine Gewohnheiten kritisch zu überdenken: Sind das Gewohnheiten, die wie eine Hypothek auf mir selber und meiner Familie lasten? Oder passen sie zur Idee des „guten Lebens“?

Diese Idee glaubt unbeirrbar daran, dass Menschen auf diese Weise kleine und auch erstaunlich große Veränderungen in ihrem Leben bewirken können. Nicht dass sie alles zum Gelingen des Lebens in Ehe und Familie beizutragen vermögen, aber eben doch vieles.

Dr. Michael Feil