Die bedeutsamen Dritten

Für viele Familien ist die Unterstützung der Großeltern überlebenswichtig. Doch ihre Glanzrolle spielen sie erst, wenn sie nicht gebraucht werden.

 

Ohne Großeltern drohte vielen jungen Familien das Chaos. Denn Oma und Opa leisten oft weit mehr als Babysitter-Dienste, mit denen sie ihren (Schwieger-)Töchtern und Söhnen kinderfreie Zeiten zum Durchatmen und zur Pflege ihrer Paarbeziehung verschaffen. Viele Großeltern springen in den heutigen komplizierten Lebensverhältnissen als Ersatz-Versorger ein – damit die alleinerziehende Tochter ihre Ausbildung abschließen kann, wenn die junge Mutter krankheitsbedingt für längere Zeit ausfällt oder Eltern ihre „doppelte“ Berufstätigkeit und ihre Kinder anders nicht unter einen Hut bringen können.

Babysitter und Ersatz -Versorger

Das Engagement der Großmütter und auch Großväter gilt dann weithin als selbstverständlich, und sie selbst erleben dabei noch einmal die Ambivalenz zwischen dauerndem Eingespannt-Sein und unmittelbarer Sorgepflicht und der Freude am täglichen Gebraucht-Werden und der Erfahrung, immer noch oder wieder mitten im Leben zu stehen.

Die Bedeutung der Großeltern für das Familienleben ihrer Kinder und Enkel beschränkt sich dabei nicht auf überlebenspraktische Aufgaben.

Sophie zum Beispiel hat mehrere Kinder und eine große Zahl von Enkeln, die fast ausnahmslos einen guten Kontakt mit der Oma haben. Als sie während einer längeren Krankheit einer Schwiegertochter in deren Haushalt aushilft, erlebt sie einen heftigen Streit zwischen ihrem Sohn und dem zehnjährigen Enkel, bei dem die beiden Protagonisten hoch erregt und unversöhnt auseinander gehen. Unabhängig davon, dass Sophie unter diesem Streit selbst heftig leidet – sie spürt auch, dass Unheil in der Luft liegt und ihr Enkel regelrecht gefährdet ist. So fasst sie sich ein Herz, spricht ihren Sohn an und fordert ihn auf, einen Schritt auf seinen Sohn zuzugehen, bevor er das Haus verlässt. Die Intervention gelingt. Zwar sagt Sophie sich selbst, dass sie damit eine Grenzüberschreitung begangen hat; andererseits ist sie aber überzeugt, in diesem Moment richtig gehandelt zu haben. Zu Recht, denn Vater und Sohn hatten sich tatsächlich unheilvoll ineinander verbissen (wie es Kindern und Eltern immer wieder passieren kann) und brauchten, um einen Anstoß zur Auflösung der Situation zu finden, einen Menschen, der sie wirklich gut kennt. Das wäre „normalerweise“ die Partnerin und Mutter, die aber gerade nicht zur Verfügung stand; so konnte/musste Sophie vorübergehend in die Rolle des „bedeutsamen Dritten“ schlüpfen, der in einer kritischen Situation mit hoher emotionaler Sensibilität und Engagement interveniert. Dennoch bleibt es eine riskante Einmischung in die Welt des eigenen erwachsenen Kindes, die sich nur durch eine außergewöhnlich brenzlige Situation rechtfertigen lässt und einen guten und stabilen Kontakt zu dem Sohn voraussetzt.

Der Zwiespalt der Miterzieher

Anders sieht das aus, wenn die Großeltern auf Dauer als Betreuer und Miterzieher der Enkel in das Leben der jungen Familie integriert sind.

Helga kann sich noch genau an den Abend erinnern, an dem ihre Tochter ihr nicht nur beichten musste, dass sie eine wichtige Prüfung nicht bestanden hatte; zudem sei sie schwanger, wolle aber mit dem Vater des Kindes nicht zusammenleben. Trotz allem fiel Helga ihrer Tochter vor Freude weinend um den Hals, hatte sie sich doch schon fast damit abgefunden, dass die ältere ihrer beiden Töchter kinderlos bleiben würde. Allerdings bedeutete das, dass sie als Großmutter für mehrere Jahre die Rolle der wichtigsten Erzieherin wahrnehmen musste, während ihre Tochter zunächst ihre letzten Prüfungen nachholte und dann ihre berufliche Existenz aufbaute.

Später fand sie auch einen neuen Partner; dass die beiden mit Helgas geliebtem Enkelkind aufs Land zogen, bedauert die Großmutter noch heute.

 

Unter solchen Bedingungen entwickelt sich aus einem ehemaligen Eltern-Kind-Verhältnis eine „Erziehungspartnerschaft“, in der die Großeltern hin- und hergerissen sind zwischen einer theoretisch angemessenen Subsidiarität (also dem Bemühen, den Eltern so viel Einfluss wie möglich zu belassen) und einem sehr hohen praktischen Einfluss.

Denn: Wer die meiste (All-tags-)Zeit mit den Kindern verbringt, beeinflusst zwangsläufig auch ihre Entwicklung und erzieht mit. In vielen Familien klappt das problemlos; schwierig wird es dagegen, wenn der rasante gesellschaftliche Wandel die Generationen in ihren Wertvorstellungen und Erziehungsstilen voneinander entfernt hat. Großeltern, die die Entwicklung ihrer Enkel aus der Ferne oder nur punktuell erleben, können damit gelassen umgehen; Großeltern, die in das tägliche Erziehungsgeschäft eingreifen, müssen sich dagegen dazu positionieren und damit arrangieren, dass ihre Kinder als Eltern andere Werte, Lebensstile und Erziehungspraktiken vertreten. Außerdem erleben sie häufig irritiert, dass ihre Enkel sich vor allem außerhalb der Familie in einer Welt bewegen, die sie als Großeltern nur staunend zur Kenntnis nehmen, aber in keiner Weise steuern können. Vermutlich erleben sie hier ihre „operative Machtlosigkeit“ noch weitaus deutlicher als in der Erziehung der eigenen Kinder – Themen, die in „alternden“ Familienkreisen, Großeltern-Gesprächskreisen oder Großeltern-Enkel-Freizeiten häufig wiederkehren. Dazu kommt, dass die Großeltern für ihre eigenen Kinder trotz allem Eltern bleiben – mit all den schönen und problematischen Verwicklungen, den intimen gegenseitigen Kenntnissen und Verkennungen, die sich lebenslang ergeben haben. Möglicherweise werden sie sogar als Miterzieher ihrer Enkel noch einmal mit der Erziehungsgeschichte konfrontiert, die sie mit ihren eigenen Kindern haben, und sehen sich an der einen oder anderen Stelle rückwirkend in Frage gestellt. Gut, wenn sie diese Themen und Eindrücke mit ihren Kindern klar besprechen können und dabei deutlich machen, dass sie deren Erstverantwortlichkeit für die Enkel respektieren.

Paraderolle: Unterbrecher

Aber auch wo der Haushalt der Kinder ohne ständige groß­elterliche Unterstützung funktioniert, sind die Großeltern keineswegs bloß luxuriöse Anhängsel. Tatsächlich können sie dort sogar in ihre beste Rolle hineinwachsen – als „Unterbrecher“.

Wenn Erwachsene die besondere Qualität ihrer Beziehung zu Oma und/oder Opa beschreiben, dann stellen sie meist eine Erfahrung in den Vordergrund: dass sie mit den Großeltern „aus der Zeit fallen“ konnten. Das beginnt damit, dass Großeltern oft entspannter leben, weniger auf Effektivität und Erfolg gebürstet sind, ihre Enkel einfach „sein lassen“ und ihnen doch volle Aufmerksamkeit schenken. Dahinter mag in einem gewissen Maß die schlichte Tatsache stehen, dass sie mit dem Alter eben langsamer werden und die Langsamkeit (neu) entdecken.

Zum zweiten gibt es im Haushalt der Großeltern manches zu entdecken, das ebenfalls aus der Zeit gefallen scheint. Das beginnt mit Fotografien der eigenen Eltern als Kinder, überhaupt mit Erinnerungen an Zeiten, die vor dem Erfahrungshorizont der Enkelkinder liegen. Und manches Gebrauchsgerät, manches technische Werkzeug ist den Enkeln genauso fremd wie manche Ansichten der Großeltern. Es riecht in der Wohnung anders, es finden sich andere Symbole; die gesamte Ästhetik ist anders als die, die Kinder von zuhause kennen. Und schließlich „unterbrechen“ die Alten die Alltagswelt ihrer Enkel auch durch eine andere Sicht auf die Fragen und Probleme, mit denen die Jungen sich herumschlagen. Das macht die Großeltern zu „signifikanten Anderen“ und so wichtig: Sie stehen in engen (familiären) Beziehungen und können sich auf die Enkelkinder als kleine Personen konzentrieren, und gleichzeitig setzen sie Kontraste, weil sie zugleich eine andere Welt verkörpern.

Andreas Wittrahm