Achtsam für das Andere

.Es müssen nicht die Niagara-Fälle sein, oft tut’s ein Dorfbrunnen. Wer es schafft, den Alltag zuhause zu lassen, kann im Urlaub den Blick frei bekommen für das, worauf es wirklich ankommt.

Man kann nicht alles haben

Oh je, noch eine Anforderung an den Urlaub. Als ob die Erwartungen nicht schon hoch genug geschraubt wären! Erholung soll er bringen, Zeit für Zweisamkeit, einprägsame Erlebnisse, vielleicht sogar Bildung, hermachen soll er auch etwas („Wir waren heuer in …!“) – und jetzt noch Zeit für Achtsamkeit? Wie soll das alles gehen?

Stimmt: Das geht nicht! Das ist sicher ein Grund für manche Urlaubskrise: Man kann nicht alles haben, und wenn man es versucht, geht es fast immer schief. Wir haben in unserer Familie gute Erfahrungen damit gemacht, uns von vornherein zu überlegen, was der nächste Urlaub bringen soll und was nicht. Als wir mit unseren kleinen Kindern vor Jahren ins Voralpenland fuhren, haben wir für uns vorher klar festgelegt: Diese Reise dient nicht der Erholung der Eltern! Ob man es glaubt oder nicht: Das hat uns sehr gut getan, weil das verzweiflungsgeladene Gefühl: „Ich kann mich hier ja gar nicht erholen!“, ein für allemal vom Tisch war.

Mehr Zeit für Achtsamkeit

Werfen wir also – vorschlagshalber – so manchen anderen Anspruch über Bord und versuchen wir es stattdessen mal mit dem Vorsatz „mehr Zeit für Achtsamkeit“. Der Urlaub ist ein Stück Lebenszeit, das sich recht gut für diesen Vorsatz eignet. Um mehr Achtsamkeit entwickeln zu können, ist es nämlich ganz hilfreich, wegzufahren, die gewohnte Alltagsumgebung zu verlassen, das, was man ja eh zu kennen meint; die Alltagsgeschäfte auszublenden, die großen und die kleinen, „die Götzen, die jeder hat und zu denen er sich wegzuschleichen pflegt“, wie der Philosoph Martin Heidegger das einmal genannt hat – all das, was wir im Alltag so tun, um uns nicht bei uns selbst aushalten zu müssen. Der Urlaub und die Urlaubsreise bieten die Möglichkeit, dem „Anderen in sich selbst“ Raum zu geben, sich selbst in einer anderen Umgebung und Lebenswelt zu erfahren. Man muss natürlich aufpassen, dass dieses „Andere“ nicht gleich wieder zu einer neuen Routine wird, zugepflastert am Ende noch mit all dem, was man meint, aus dem Alltag unbedingt mitnehmen zu müssen. Wenn das gelingt, wenn vieles zu Hause bleibt und in den Stunden und Tagen tatsächlich ein wenig Platz frei wird, dann kann das Neue, das Ungewohnte, das Andere auch wirklich Raum greifen. Es kann dann gelingen, dass Belastungen tatsächlich von einem abfallen, dass der Atem freier und ein wenig mehr Gelassenheit möglich wird.

Neue Perspektiven

Das sind schon recht gute Voraussetzungen für mehr Achtsamkeit. Die Rezeptur von zurückgelassenem Alltag, anderer Umgebung und neuen Erfahrungen ermöglicht nämlich etwas, was den Urlaub so wertvoll macht: neue Perspektiven. Das eigene Leben kann unter diesen Bedingungen tatsächlich einmal anders in den Blick genommen werden – nicht völlig, aber doch ein wenig anders. Das Wichtige und das Unwichtige können noch einmal neu voneinander unterschieden werden. Es ist, wenn man so will, wie bei einem Bildhauer, der an einer Skulptur herum meißelt, sich an einer bestimmten Stelle in den Stein vorarbeitet, dann aber einen Schritt zurücktritt, um die momentane Arbeit im Rahmen des Ganzen zu begutachten. Im Alltag ist es gar nicht so leicht, das „Ganze“ in den Blick zu bekommen. Viel zu verbohrt starrt man da oft aufs Detail, kann den Blick nicht abwenden. Mit mehr Zeit für Achtsamkeit dagegen kann es gelingen, den Blick vom Alten zu lösen und Neues zu entdecken.

Chancen der Urlaubszeit

Dabei entdeckt die Achtsamkeit das Neue nicht nur im Spektakulären. Es müssen nicht die Niagara-Fälle, der Grand Canyon oder die Cheops-Pyramide sein. Gerade mit Kindern kann man erleben, was die Faszination einer Heuschrecke ausmacht, welche Begeisterung ein Trinkwasserbrunnen auf einem Marktplatz auslöst oder wie es sich anfühlt, miteinander ein Picknick in der Natur zu veranstalten. Solche kleinen Anlässe verdienen Achtsamkeit, weil sie dann ihren Zauber entfalten können, der immer wieder auf der gleichen Grundbotschaft beruht: Es gibt noch etwas anderes als meinen grauen Alltag! Ich kann auch neu und anders sehen und die, die mir so eingefahren vertraut sind, die haben auch noch andere, unentdeckte Seiten. So kommen neue Perspektiven ins Spiel, und der Blick auf das eigene Leben wird mehrdimensional. Das führt auch zu neuen Fragen: Ist mein Leben so, wie ich zuletzt noch dachte? Könnte es nicht auch anders sein? Bin ich im Frieden mit diesem meinem Leben? Was kann ich und was muss ich ändern? Habe ich die Anliegen und Sehnsüchte meiner Frau, meines Mannes, meiner Kinder richtig gesehen? Und wo sind meine blinden Flecken? Diese Fragen mögen nicht immer sehr bequem sein; deshalb schleichen wir uns ja zu unseren Götzen, unseren Lieblingsablenkungen weg. Aber das ist gerade die Chance der Urlaubszeit: die Gelassenheit zu finden, um diese Fragen angstfreier angehen zu können.

Mit Klugheit einen Rahmen vorbereiten

Zugegeben: Das gelingt nicht immer. Oft ereignen sich die Edelstein- oder Schlüsselmomente zu einem Zeitpunkt und in einer Weise, die man so nicht vermutet, geschweige denn berechnet hat. Vielleicht lassen sie sich sogar erst in der Rückschau erkennen. Was man aber tun kann: mit Klugheit einen Rahmen vorbereiten, in dem sich diese Augenblicke des inneren Durchbruchs zum Eigentlichen ereignen können.

Es mag sich klischeehaft anhören, aber mir wird immer der Sternenhimmel in Erinnerung bleiben, den wir vor vielen Jahren im französischen Zentralmassiv bestaunten und der mir zuinnerst das Gefühl vermittelte, unendlich klein, äußerlich unbedeutend – und dennoch da zu sein, gehalten und getragen mit all meinen Sorgen, Nöten, Wünschen und Sehnsüchten. „Gotteserfahrung“ ist ein großes und schillerndes Wort; bei dem Theologen Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) fand ich aber Gedanken, die ich mit meinen Sternenhimmel-Urlaubserinnerungen recht gut in Einklang bringen kann: Religion sei „Anschauen des Universums“, „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ und schließlich das „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“, ein Gefühl des Geschenkt- und Getragenseins also, das mich bewegt und aus dem heraus ich leben darf.

Natürlich: Vielleicht hätte mich dieser Blick auf den Sternenhimmel auch an einem ganz normalen Sommerabend mitten im deutschen Arbeitsalltag ergreifen können. Vielleicht – aber tatsächlich geschah es im Urlaub, unterwegs, in einem Rahmen, in dem mehr Zeit für Achtsamkeit war.

Was nehme ich mit in den Alltag?

Bleibt die Frage: Lässt sich das, was die Achtsamkeit entdeckt, mit in den Alltag herüber nehmen? Meine Erfahrung ist: Die Emotionen der Freiheit, die Ungezwungenheit, den Wind und die Sonne auf der Haut oder das Beeindrucktsein von den Sehenswürdigkeiten – nein, viel davon lässt sich nicht „konservieren“. Der Urlaub bleibt eben Urlaub, Ausnahmezeit, und der Alltag ist auch danach alltäglich. Das muss aber nicht enttäuschen, denn es gibt doch etwas, das bleibt: das gelebte Leben, das mehr bedeutet als verblassende Erinnerungen. Wir verbrauchen unser Leben ja nicht einfach, sondern wir sammeln es in uns. Es bleibt ein Stückchen Lebenszeit, das mich prägt, vielleicht sogar intensiver als die gleichförmigen Alltage. Es bleibt das Wissen, dass es in mir und in den anderen eben auch dieses Andere gibt, das ich im Urlaub entdecken durfte. Das mag sich nach nicht viel anhören, vielleicht sogar nach einem billigen Trost, aber das ist es nicht; ich jedenfalls freue mich schon auf die neue Chance bei unserem nächsten Familienurlaub.

Michael Feil