Genies, Clowns und schwarze Schafe
Nicht allein die Geburtenfolge prägt die Beziehungen von Geschwistern. Mindestens genauso wichtig sind die Zuschreibungen der Eltern.
Geschwister: Für die einen sind sie die wichtigsten Menschen, für andere höchstens entfernte Verwandte, die nicht in ihr erwachsenes Leben passen. Einigen dienen die Geschwister als eine Art Kompasse, an dem sie ablesen, wo sie stehen. Wieder andere sind verfeindet oder gehen sich einfach aus dem Weg. Fakt ist: FreundInnen kommen und gehen, Partnerschaften können scheitern, die eigenen Kinder gehen aus dem Haus; nur Geschwister haben sich ein Leben lang. Selbst wenn sie viele Jahre keinen Kontakt miteinander haben, so verbindet sie dennoch das gemeinsame Schweigen.
Wie lassen sich diese unterschiedlichen Entwicklungen von Geschwisterbeziehungen klären? Ist der Einfluss der jeweiligen Geschwisterpositionen entscheidend?
Mit der Stellung in der Geschwisterreihe gehen sicherlich bestimmte Wesenszüge einher. Erstgeborene gelten, je länger sie mit den Eltern allein waren, als leistungsorientierter als andere Geschwister und stets bemüht, den Anforderungen der Eltern gerecht zu werden. Die jüngeren entwickeln Fähigkeiten, um mit ihren dominanten älteren Geschwistern zurechtzukommen. Doch selbst Alfred Adler, der Begründer der Theorie über die Geschwisterrangfolge, spricht davon, dass nicht die Position den Charakter präge. Viel bedeutsamer sei die Familiensituation, in die ein Kind hineingeboren wird. Will sagen: Die Qualität der Beziehungen zwischen den Eltern und zu den einzelnen Kindern ist für die Entwicklung der Geschwisterbeziehungen entscheidender als die Geburtenfolge.
Aus dem Maß und der Qualität der Zuwendung und Wertschätzung, die ein Kind von seinen Eltern erhält, und aus den Erfahrungen mit ihnen schließt es auf seinen Wert. Es entwickelt ein „Lebensgrundgefühl“, empfindet sich im Vergleich zu anderen Menschen mehr oder weniger wertvoll. Wie es sich selbst erlebt, hängt weitgehend davon ab, wie es von seiner unmittelbaren Umgebung, vor allem von seinen Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen, eingeschätzt wird; dazu zählen auch wesentlich ältere Geschwister. Die Einflüsse, die eine prägende Wirkung haben können, werden in der Transaktionsanalyse als Botschaften bezeichnet. Daraus entwickelt ein Kind seinen „Lebensplan“, von Eric Berne auch „Drehbuch“ genannt.
Zuschreibungen als eine Form der elterlichen Botschaften sind oft besonders suggestiv und sehr wirksam. So kann die aufgeweckte, selbstbewusste und fordernde Tochter schnell zum „Quälgeist“, der ruhige, freundliche Bruder zum „braven Jungen“ abgestempelt werden. Die Palette der Zuschreibungen lässt sich beliebig erweitern – vom „Leichtfuß“, „Genie“, „Clown“, „Glückspilz“ und der „Prinzessin“ bis zum Unglücksraben. Diese Rollenverteilung kann die Geschwisterbeziehung stark belasten; sie verführt Geschwister nämlich dazu, die Zuschreibungen der Eltern zu übernehmen. Sie kann Geschwister zu Rivalen machen – oder auch nicht.
Auch die ersten Erfahrungen mit Gleichheit und Gerechtigkeit werden in den Beziehungen zu den Brüder und Schwestern gemacht. Sie kommen entweder zu der Erkenntnis, dass sie alle im selben Boot sitzen, oder sie glauben, dass sie alle Einzelkämpfer sind. Weil Kinder nicht allzu kritisch auf das reagieren, was sie sehen und hören, „schlucken“ sie solche Botschaften ohne Hinterfragen.
Es gibt keine Geschwisterposition, die von vornherein günstig oder ungünstig ist. Zweifellos erhalten Erstgeborene viel Aufmerksamkeit. Bereits während der Schwangerschaft ist die Atmosphäre von vielerlei Erwartungen gekennzeichnet, die sich in der Namenswahl, dem Kauf von Babykleidung oder der Tapete fürs Kinderzimmer äußeren können. Das Erstgeborene ist ein Versuchskaninchen, an dem Mutter oder Vater ihre Erziehungskünste ausprobieren. Die gebündelte Aufmerksamkeit, das Rampenlicht und die Verantwortung, denen Älteste ausgeliefert sind, üben Druck aus. Älteste klagen häufig darüber, dass sie häufig bestraft wurden oder sie nie aus der Reihe tanzen durften, dass Regeln und Vorschriften für die jüngeren Geschwister immer weniger galten, dass sie die Aufsicht über und die Verantwortung für jüngere Geschwister übernehmen mussten. Wie oft musste sie sich anhören: „Du musst deinen Geschwistern ein Vorbild sein! Ich verlasse mich auf dich, du bist der/die Große! Von dir erwarte ich einfach mehr!“
Andererseits: Erstgeborene sind für Toleranz und Geduld bekannt und auch dafür, gut organisiert, gewissenhaft und besonders belastbar zu sein. Sie haben gelernt zu teilen und zurückzustecken. Im Hinblick auf soziale Fähigkeiten sind sie trainiert in der Übernahme von Verantwortung und der helfenden Rolle. Fast scheint es so, als bestünde die vorrangige Aufgabe der Erstgeborenen darin, immer etwas erwachsener zu sein. In diesem Sinne haben sie gelernt, sich an den Erwachsenen zu orientieren, sie nachzuahmen, ihre Verhaltensmuster und Traditionen zu übernehmen, ihre Ordnungen ernsthaft einzuhalten und weiterzugeben. Die Motivation dazu ist natürlich vorhanden, denn alles, was sie tun oder unterlassen, wird für Eltern oder für andere Familienglieder zu einer großen, bedeutsamen Angelegenheit. Sie können darauf vertrauen, dass sie akzeptiert und ernst genommen werden, sofern sie positive Förderung und Ermunterung erfahren haben.
Das Gegenstück zum Erstgeborenen ist das jüngste Kind. Es lebt im Schatten derer, die vor ihm geboren sind.
Jüngste Geschwister erinnern sich bis heute noch daran, dass Leistungen wie Schuhe zubinden oder die Uhr lesen mit Gähnen kommentiert wurden: „Weißt du noch, wie Jürgen (der älteste Bruder) das zum ersten Mal gemacht hat?“ Auf die Leistungen der Jüngeren wird scheinbar nicht mehr mit spontaner Freude reagiert. So ist es nicht ungewöhnlich, wenn das Jüngste seine Kenntnisse vom Leben durch die älteren Brüder oder Schwestern vermittelt bekommt. Letztgeborene sind es gewohnt, abgewiesen oder ausgelacht zu werden, weil sie immer noch an den Osterhasen glauben. Rückblickend berichten sie, wie zwiespältig die anderen mit ihnen umgingen: In einem Augenblick wurden sie verwöhnt und liebkost, im nächsten herabgesetzt und verspottet. Dieses Gefühl führt oft zu Selbstzweifeln und Verwirrung. Es ist kein Geheimnis, das Letztgeborene das Gefühl kennen: „Nichts, was ich tue, ist wichtig!“ Der Wunsch, „es den anderen zu zeigen“, kann deshalb ein wesentlicher Motivationsfaktor werden. „Nesthäkchen“ zeigen ihren älteren Geschwistern, Eltern und der ganzen Welt, dass man mit ihnen rechnen muss. Um mit ihren dominanten älteren Geschwistern zurechtzukommen und aus ihrem Schatten endlich herauszutreten, brauchen und entwickeln sie besondere Fähigkeiten: Sie werden als freundlich und diplomatisch beschrieben, gelten als geborene Vermittler, aber auch als Rebellen gegen vorgefundene Ordnungen, die sie mit List und Überzeugung anfechten.
Als Problemkinder werden in der Geschwisterforschung neuerdings oft die Mittelkinder beschrieben. Sie stecken in einer „Sandwich“-Position.
Sie sind zu spät geboren, um die Privilegien der Erstgeborenen genießen zu können. Sie sind zu früh geboren, um sich alles erlauben zu dürfen, was scheinbar nur für Letztgeborene gilt. Viele mittlere Geschwister beklagen, dass sie selten zu spüren bekommen, dass sie etwas Besonderes seien. Wohl nicht zu Unrecht; die Fotoalben von Familien enthalten fast keine Einzelaufnahmen von Mittelkindern. Das älteste Kind gilt als etwas Besonderes, weil es das erste ist, das Jüngste, weil es das letzte Kind ist. Das mittlere Kind jedoch ist eben „nur“ Claudia oder Heribert. So fühlen sich Mittelkinder oftmals unverstanden, überflüssig, wie ein fünftes Rad am Wagen. Entweder sind sie „dafür noch zu jung“ oder „dafür schon zu alt“. Deshalb wendet sich das Mittelkind dorthin, wo es genau das richtige Alter hat – zu seinen Alternsgenossen. Mittelkinder sind ausgezeichnete Mannschaftsspieler. Aufgrund der Tatsache, dass sie die Eltern nicht für sich alleine haben können und auch ihren Willen nicht immer durchsetzen können, haben sie gelernt zu verhandeln und Kompromisse zu schließen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Mittelkinder verschlossener sind als ihre Geschwister. Sie sind wählerisch in der Wahl ihrer Beziehungen und schenken nicht vielen Menschen ihr Vertrauen. Durch die Erfahrung, nicht wirklich dazuzugehören, keinen besonderen Platz innerhalb der Familie zu haben, erwerben Mittelkinder geistige Stärke und Unabhängigkeit. Sie sind vielleicht nicht so energiegeladen wie Erstgeborene, dafür aber auch nicht in ihren Zwängen gefangen. Sie scheinen eher im Gleichgewicht zu sein.
Jede Geschwisterposition hat also ihre eigenen Vor- und Nachteile.
Geschwisterbeziehungen verändern sich im Laufe des Lebens. Als Teenager gehen Geschwister eigene Wege; dennoch nehmen sie weiterhin regen Anteil am Leben des anderen. Zeitweise schwärmt man für den gleichen Pop-Star oder man schließt sich zusammen gegen Dritte. Mit dem Schritt ins „erwachsene“ Leben beginnt die äußere Trennung. Längere Zeit verlieren sich Geschwister möglicherweise aus den Augen – nicht aus dem Sinn. Die Geschwisterliebe oder -distanz wird deutlich, wenn Brüder und Schwestern eine eigene Familie gründen. Geschwister werden dann Onkel und Tante – aber übernehmen sie auch ein Patenamt? Die Beziehung zu den Neffen oder Nichten kann die eigene Beziehung zur Schwester oder zum Bruder (wieder) verstärken.
Häufig finden Geschwister im Alter wieder näher zueinander.
Der regelmäßige Kontakt nimmt wieder zu. Geschwister sind lebendige Zeitzeugen zwischen dem, was wir waren, und dem, was aus uns geworden ist. Neben dem Bild von uns selbst speichern wir auch Bilder unserer Geschwister, wie sie albern kichern, so wie wir sie früher beim Spielen, im Bett, auf dem Klo oder in den Ferien erlebt haben. Diese Bilder fügen sich nahtlos in unser Erwachsenenleben ein. So manche Szene aus der Kindheit wollen wir möglichst schnell vergessen; der jüngere heulende Bruder, der immer wieder von dem Nachbarsjungen verprügelt wurde, ist heute vielleicht ein erfolgreich und selbstbewusster Geschäftsmann geworden, der nicht an diese Zeit der heißen Kindertränen und Hilflosigkeit erinnert werden will. Wie mag er sich wohl fühlen in Gegenwart seiner Geschwister, die das alles wissen?
Manchmal wünschen wir uns, „noch einmal ganz von vorne anfangen zu dürfen“. Letztendlich haben wir mit den Dingen zu leben, wie sie sind: mit unseren Qualitäten und Schwächen und ebenso mit denen unserer Geschwister.
Maria Brüggemann