Die Kraft der Klage

Das Leid nicht in sich hineinfressen, sondern aussprechen und Heraus-Sprechen: Warum es sich lohnt, die biblische Tradition des Klagens neu zu entdecken.

Zwei junge Menschen aus meiner Gemeinde haben sich verlobt. Karten wurden gedruckt. Die Eltern des jungen Paares luden zu einer Gartenparty ein. Es war ein strahlender Sommertag. Der Himmel hing voller Geigen. Zwei Menschen, die sich auf ihre Ehe vorbereiten wollten. Eine festlich geschmückte Tafel, Blumengebinde, Tanz und Musik. Und viele, unendlich viele gute Wünsche. Ein paar Monate später klingelt das Telefon. Eine tränenerstickte Stimme: „Erinnern Sie sich noch an unser Verlobungsfest?“ Schluchzen, eine lange Pause, dann stockend: „Wir schaffen es nicht. Wir kommen einfach nicht miteinander zurecht. Die ganze Zeit über haben wir es miteinander versucht. Wir haben eine Paarberatung gemacht, aber es reicht nicht. Wir werden unsere Verlobung lösen.“

Soll ich dieses Paar an Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ erinnern? An seinen sympathischen, kräftigen Schlussakkord:

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden … wohlan denn Herz nimm Abschied und gesunde.

Kein Wunder, dass diese Verse so beliebt sind, geradezu zum Lebensmotto stilisiert werden. Aber das wäre zynisch, absurd. Denn so schön diese Verse sind – an manchen Stellen ist ihre Botschaft zu glatt, zu wohltönend. Sie mogeln sich über den Schmerz eines Abschieds hinweg.

Nein, diese beiden Menschen, die vor den Scherben ihrer Beziehung stehen, brauchen keinen Appell zur Tapferkeit und Trauervermeidung. Sie brauchen Gehör und Verständnis und Mitgefühl. Vor allem wollen sie in ihrem Klagen ernst und angenommen werden.

Es gibt einen Unterschied zwischen Klagen und Jammern

Der Klage wohnt eine große heilende Kraft inne. Menschen benennen und beschreiben darin, was ihnen verloren gegangen ist. In der Klage stehen sie zu ihrem Kummer und ihrem Schmerz. Sie sprechen Zorn und Enttäuschung aus, und dieses Aussprechen wird zum Heraus-Sprechen: Es lastet nicht mehr so sehr auf der Seele.

Darin liegt ein großer Unterschied zum Jammern. Jammern bleibt unverbindlich und vage. Es dreht sich im Kreis und führt nicht weiter. Das, was verloren ist, halte ich fest, anstatt es loszulassen. So schafft Jammern auch keine Nähe, sondern geht auf die Nerven und befremdet. Es zieht alles an sich wie ein Strudel, der sich nach unten dreht. Die Klage hingegen stiftet Nähe und Mitgefühl. Sie gibt her und lässt los. Sie hat einen Anfang und ein Ende, das Jammern jammert endlos.

Wo bist du, mein Gott? Ich suche dich mit wachsender Verzweiflung, aber ich schreite nur durch leere Räume. Nimm die Nacht aus meinen Augen, dass ich dich erkenne und die Angst von mir weiche.

Diese Verse von Sabine Naegeli machen deutlich: Da streckt sich ein Mensch nach einem Leben aus, das ihm entgleitet, nach einem Sinn, der nicht mehr spürbar, nach einem Gott, der nicht mehr erkennbar ist.

Auch der Mensch der Bibel kennt die Erfahrung, sich nicht mehr mitteilen zu können. „Ich bin verstummt und still,“ heißt es in einem Psalm, „und fresse mein Leid in mich hinein.“ (39,3). Dennoch bleibt diese Erfahrung eher punktuell. Denn für längere Zeit kann er dieses Schweigen, in der es ihm die Sprache verschlägt, gar nicht durchhalten. Über kurz oder lang öffnen sich seine Lippen, und sein Leid fließt aus ihm heraus. In der Klage des Alten Testamente hat sich dieses Heraus-Sprechen eine eigene Form geschaffen. Auf eine einzigartige Weise zeugt sie von der Fähigkeit, sich im Leid noch mitteilen und sich dem Leben zuwenden zu können.

Der Trost der Psalmen

Ein paar Strophen aus dem 102. Psalm: Welche Poesie kommt in diesen Zeilen zum Ausdruck, welche Schönheit und welche seelische Kraft! Alle Lebensbereiche finden sich in diesen Bildern wieder – die körperliche Erfahrung, das seelische Erleben, die soziale Dimension und das Zusammenwirken all dieser Bereiche. Die psychosomatische, die psychosoziale, die psychoreligiöse Ebene. Aber wie blass sind unsere modernen Worte im Vergleich dazu (Vers 4-8):

Meine Tage sind vergangen wie von Rauch, und meine Gebeine sind verbrannt wie von Feuer.

Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras, dass ich sogar vergesse mein Brot zu essen.

Mein Gebein klebt an meiner Haut vor Heulen und Seufzen.

Ich bin wie die Eule in der Einöde, wie das Käuzchen in den Trümmern.

Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dach.

So fließt es heraus, Zeile für Zeile und Strophe für Strophe, in immer neuen Bildern. Dahinter steht das Vertrauen, dass Gott unsere Klage erträgt, ja, dass er sie annimmt. Wir berauben uns einer ganz wichtigen Äußerungsmöglichkeit, wenn wir in den Krisen unseres Lebens stumm bleiben.

Erstaunlicherweise münden diese Worte zum Schluss in ein Bekenntnis der Zuversicht. Der Beter zerbricht nicht, denn er weiß, dass Gott bleibt, dass er uns zugewandt bleibt. Es ist eine alte Erfahrung, und sie reicht bis in unsere Tage: Wo Menschen sich zu ihrer Traurigkeit bekennen, strömt auch wieder Freude ein. Wo viel Klage ist, ist auch viel Lob.

Ausdrücken, was sich eindrücken will

Es lohnt sich, diese biblische Tradition für die Abschiedssituationen unseres Lebens wieder zu entdecken. Nur nicht sprachlos werden, nur nicht verstummen! Ausdrücken, was sich eindrücken will – darum geht es.

Lieber Gott, meine Katze ist tot. Ein Auto hat sie überfahren. Ich bin sehr traurig. Ich habe geweint. Es war eine schöne Katze, die schönste gewiss, die Du je hast leben lassen. Nun ist sie tot. Ich habe keine Katze mehr. Für mich war die Katze kostbar. Für Dich auch. Denn Du schaust alles an, was ich lieb habe. Amen.

Gott, nun ist unser Immanuel tot. Wir können ihm nicht mehr helfen. Wir können nicht mehr bei ihm sein. Wir haben uns auf dieses Kind gefreut. Wir sind dankbar für jeden Tag, den wir mit ihm zusammensein durften. Warum musste unser Kind sterben? Wir hätten so gerne noch lange für es gesorgt. Wir können es nicht mehr sehen. Wir können es nicht mehr rufen. Wir können es nicht mehr hören. Wir können es nicht mehr in unseren Arm nehmen. Gott, vergiss Du dieses Kind nie. Möge es bei Dir bleiben, da wir nicht bei ihm sein können. Hab Du es lieb. Amen.

Diese Gebete von Marielene Leist lassen den Schmerz zu und beschreiben den Kummer. Es wird nichts beschönigt, und dennoch taucht – wie in den Klagepsalmen der Bibel – ein Horizont von Hoffnung auf und das Vertrauen, dass alles geborgen und behütet ist.

Unser Leben beinhaltet ein ständiges Adieu-Sagen, ein fortlaufendes Loslassen, ein immerwährendes Abschiednehmen. Es beginnt ja mit einer Verlusterfahrung, im Erlebnis der Geburt. Die kleine Erdenbürgerin, die da geboren wird, verliert zunächst einmal die Wärme, die Geborgenheit, das ständige und zuverlässige Umsorgtwerden im Mutterleib. Sie betritt eine kalte, grelle, lärmende Welt. Die erste Abschiedssituation unseres Lebens.

Unsere Lebensphasen nehmen dieses Thema auf. Die ersten Jahre zu Hause, noch ganz umgeben von der Familie, dann die ersten Schritte hinaus, in den Kindergarten, später in die Schule, die Ausbildungszeit, vielleicht eine Partnerschaft, die Gründung einer Familie, das Heranwachsen der eigenen Kinder und deren Auszug und das eigene Zurückbleiben: Wir leben in einer „abschiedlichen Existenz“ (Verena Kast). Das ist schmerzlich, gewiss, aber nicht nur. Diese Existenz ist auch voller neuer Möglichkeiten. Wir lassen Altes zurück und bekommen die Chance, Neues zu entdecken. Wir können es ausprobieren und entfalten.

Allerdings lässt sich das Neue nur dann ergreifen, wenn wir bereit sind, das Alte und Vertraute loszulassen. Hier hat Hermann Hesse ohne Zweifel recht: „Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.“

Abschiedssituationen gestalten

Was ist des Lebens Ruf an mich? Das ist eine ganz produktive Frage. Was ist des Lebens Ruf an unsere Partnerschaft in einer gegebenen Situation? An unsere Familie? Das ist die große Herausforderung: Abschiedssituationen nicht resignativ hinzunehmen, sondern kreativ zu gestalten: mit einem Fest, mit einem Ritus, mit einem Gottesdienst, einem Reisesegen...

Es gibt einen schönen Kanon: „Ausgang und Eingang, Anfang und Ende, liegen bei dir, Herr, füll’ du uns die Hände.“ Wichtig dabei ist, den Ausgang und den Eingang wahrzunehmen und darin zur „Geste der leeren Hände“ (Karl Rahner) zu finden, damit Gott sie mit neuem Leben fülle.

Waldemar Pisarski