Feiern wie bei Biedermeiers

Am Heiligen Abend holen viele Familien die Kiste der religiösen Rituale und Bräuche aus dem Keller, wo sie das Jahr über verstaubt. Und viele verheben sich daran.

Der Heilige Abend hat sich behauptet

Gebete am Marienaltärchen im Mai? Das Rosenkranzgebet im Oktober? Gemeinsames Singen und Musizieren im Advent? Die häuslichen und familiären Andachtsformen, die früher das Kirchenjahr im allgemeinen Bewusstsein hielten, sind heute bestenfalls blasse Erinnerung. Selbst das Tischgebet pflegen längst nicht mehr alle Familien.
Einzig ein Tag scheint dem Trend zu widerstehen: Am 24. Dezember findet in vielen Häusern und Familien nachmittags oder abends so etwas wie ein häuslicher Gottesdienst statt. Man liest aus der Heiligen Schrift, singt fromme Lieder, betrachtet religiöse Bilder und Figuren. Der Heilige Abend hat sich behauptet – wie ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, die nostalgisch beschworen wird. Trotzdem oder gerade deshalb bereitet er vielen auch Unbehagen: Lässt sich an diesem Tag wirklich noch einmal inszenieren, was sonst kaum mehr einen „Sitz“ im Leben der Familien hat?

Unbehagen an der Nostalgie

Heiligabend. Nur wenige Abende tragen eine solche eigene Bezeichnung: Nik(o)lausabend, Sonnabend, der Heilige Abend. Diese Vorabende, die einen nachfolgenden Festtag einleiten, haben ihren Ursprung im Judentum; dort beginnt jeder Tag mit dem Sonnenuntergang und reicht wiederum bis Sonnenuntergang. In der Liturgie der Sonntage und Hochfeste hat sich die Kirche etwas davon erhalten.

Wie der Sonnabend auf den Sonntag war auch der Heilige Abend bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ein Tag der Einstimmung und Vorbereitung auf das Weihnachtsfest am 25. Dezember. Am Morgen fand ein letzter adventlicher Gottesdienst statt, eine Vigilmesse. Die erste weihnachtliche Messe, die Christmette in der Nacht, begann frühestens um 24 Uhr.

Die Geschichte der Feier am Vorabend, am 24. Dezember, wie sie heute üblich ist, reicht allerdings schon zurück in die Reformation. Damals begann man, die Christmette entweder auf den frühen Morgen des 25. oder aber auf den Vorabend zu verlegen. Anstelle der Messe feierten die evangelischen Christen am Heiligen Abend allerdings die Christvesper mit den Texten der nächtlichen Messe, also auch mit dem Lukasevangelium „Es begab sich aber zu der Zeit…“ In die Familien kam diese Feier erst im 18./19. Jahrhundert; vor allem in pietistischen Kreisen begann damals eine Verlagerung gottesdienstlicher Feiern aus dem Raum der Gemeinde in die Familie. So finden sich ab dieser Zeit zahlreiche Bücher, die eine „Hausandacht“ fürden 24. Dezember aufführen – mit Schriftlesung, Gesängen und Gebeten.

„Der Vater liest das Evangelium“

Dass auch katholische Kreise diesem Trend folgten, zeigt ein Gesangbuch aus der Mitte des 19. Jahrhunderts:

In der Ecke der Wohnstube ist eine Krippendarstellung angebracht. Um diese Darstellung werden Kerzen aufgestellt. Schon zündet man die Lichter an und wird der Rosenkranz gebetet. Das gemeinschaftliche Gebet wird mit freudiger Andacht verrichtet. Nach demselben wird das Evangelium von der heiligen Weihnacht und anderes aus dem „Großen Leben Christi“ gelesen, was auf die Heilige Nacht Bezug hat. Das alles gehört zur häuslichen Erbauung und ist Vorbereitung auf die kirchliche Feier.

Hier sind die Grundmuster für die Feier festgehalten, die bis heute mehr oder weniger ausgeprägt religiös begangen und in vielen neueren „Handreichungen“ zur Gestaltung des Heiligabends variiert wird: das Verlesen des Weihnachtsevangeliums, das Aufstellen eines mit Kerzen geschmückten Christbaumes, die Krippe als Andachtssymbol, Lieder und Gebete. Die Leitung solcher häuslichen Gottesdienste oblag dem „Hausvater“, der das Evangelium vortrug, womöglich noch eine kurze Predigt dazu hielt; noch heute heißt es im „Gotteslob“, dass der Vater das Weihnachtsevangelium liest (GL 128).

Doch auch die Kinder trugen es früher vor, mussten es teilweise sogar auswendig „aufsagen“ – wie auch die Gedichte, die ursprünglich in der Adventszeit ge­lernte Verheißungsverse und Gebete waren.

Wichtige Rollen im Ritual des Heiligabends spielen außerdem:

• der Christbaum

Zum Brauch gehört, dass der Vater die Kerzen entzündet, womöglich heimlich, und dann den hell strahlenden Baum der Familie präsentiert.

• die Krippe

Sie steht häufig im Blickpunkt des Raums; davor findet oft auch die eigentliche Feier des Abends statt, die „Krippenfeier“. Vielen galt (und gilt fälschlicherweise) die Krippe als das zentrale katholische Insignium des Heiligen Abends und wurde gegenüber den Christbaum verteidigt, der als „evangelischer Brauch“ galt.

• das Essen

Lange war der Heiligabend ein Fasten- und Abstinenztag, das bedeutete: nur eine Mahlzeit, kein Fleisch. Manche Familien fasteten bis nach der Mette, dann kamen die guten Speisen auf den Tisch. Das Fastengebot ist zwar längst entfallen, trotzdem halten viele noch an den Überlieferungen fest und essen an diesem Tag Fastenspeisen wie Fisch oder einfache Speisen, die fast im Widerspruch stehen zu der Festlichkeit, die den Heiligen Abend inzwischen prägt – zum Beispiel die berühmten Würstchen mit Kartoffelsalat.

• das Auspacken der Geschenke

Für die Kinder ist das wohl das wichtigste Ritual am Heiligen Abend. Verschiedene Schenkbräuche haben sich dahin entwickelt. Schon die christliche Antike kannte die Aufforderung, den Armen zu geben, damit sie an der Festfreude Anteil erhalten; dieses Schenken lebt bis heute vor allem institutionalisiert in „Adveniat“ oder „Brot für die Welt“ fort. Noch älter ist der Brauch, zum Jahresende als Dank und Anerkennung kleine Geschenke zu überreichen; auch das hat sich erhalten in Form des Weihnachtsgeldes oder von kleinen Zuwendungen an Zeitungszusteller, Briefträger oder Müllwerker. Zur eigentlichen, religiösen Feier des Heiligabends gehört das Bescheren zunächst aber nicht. Es war eine Randerscheinung – allein schon weil viele Familien gar keine Feier am Abend abhielten; viele Eltern bescherten ihre Kinder stattdessen nach dem Aufstehen am frühen Morgen des 25. 12. und vor dem Gang zur Kirche.

• das Glöckchen

mit dem die Kinder zur Bescherung und Besichtigung des Christbaums gerufen werden. Zunächst ein bloß akustisches Signal, repräsentiert es doch auch die Glocken im Kleinen, ebenso wie das „Weihnachtszimmer“ den kirchlichen Raum abbildet. Das verschlossene Zimmer symbolisiert in gewisser Weise sogar das Paradies, das mit der Geburt Christi wieder aufgeschlossen wurde.

Die Eltern inszenieren …
…und die Kinder sind dankbar

Gerade das Läuten mit den Glöckchen zeigt aber auch: Vielfach hat sich der Heilige Abend zu einer Inszenierung der Eltern für ihre Kinder entwickelt. Beide haben sie ihre Erwartungen an dieses Fest der Feste; das drückt sich in einer festgeschriebenen Rollenverteilung zwischen Erwachsenen und Kindern aus. Die Eltern haben den Baum geschmückt, Geschenke besorgt, sie wollen ihre Kinder überraschen und ihnen Freude bereiten; sie erwarten dafür die Erfüllung bestimmter Forderungen und Verhaltensgebote. Die Kinder sollen „artig“ und dankbar sein, Weihnachtslieder singen, Gedichte aufsagen, sich der Weihnachtsstimmung anpassen. Die geschlossene Tür spielt in diesem Schema von „innen“ (Eltern) und „außen“ (Kinder) eine wichtige Rolle; das Läuten des Glöckchens wird zum Signal, das diese Trennung beendet, und zum Startschuss für die „Premiere“.

Letztlich entstammt diese Rollenverteilung der Hausväterlichkeit und der Hausandacht; sie hat sich heute weitgehend überlebt und droht, wo Familien zwanghaft daran festhalten, zum berüchtigten Weihnachtsstress zu führen. Gemeinschaftliches Tun, zum Beispiel beim Schmücken des Baumes, kann dieser Gefahr vorbeugen. Auch das Festhalten an religiösen Bräuchen, Liedern und Gebeten kann Unbehagen auslösen, wenn Familien das sonst das Jahr über nie praktizieren und nur das Ritual aufrecht erhalten wollen.

Statt Fest nur noch Nachfeier

Dagegen hilft es auch, den Heiligen Abend in seiner ursprünglichen Bedeutung zu erleben: als Tag der Vorbereitung. Die Vorverschiebung der Gottesdienste und der Bescherung auf den Nachmittag des 24. erzeugt bei vielen das Gefühl: Weihnachten ist schon vorbei, bevor das Fest eigentlich richtig begonnen hat. Gerade das Vorziehen der Gottesdienste erweist sich als problematisch, weil dadurch die uralte Symbolik der viel besungenen Nacht verloren geht. Und der 25. 12., das eigentliche Fest, wird zur Nachfeier degradiert. Christen dürfen sich nicht wundern, wie mit ihren Symbolen umgegangen wird, wenn sie sie selbst nicht ernst nehmen.

Viele Familien machen gute Erfahrungen damit, ihre kleine Feier und auch die Bescherung auf die Zeit nach dem Gottesdienst in der Nacht (oder sogar am Tag) zu verlegen – so wie es früher oft üblich war und heute noch in anderen Ländern üblich ist. Wenn Vorbereitung auf das Fest und Fest selbst nicht in eins fallen, nimmt das viel von der Spannung, die am Heiligen Abend aufkommen kann.

Die Familie ist Kirche im Kleinen. Daher haben auch Gebet und Gottesdienst in ihr einen Platz – aber eben nicht nur einmal im Jahr. Das Projekt „Familien feiern Kirchenjahr“, das die Familienreferate der Diözesen seit einigen Jahren fördern, weckt und wahrt das Bewusstsein für religiöse häusliche Formen in heute angemessener Weise. Im übrigen gilt, was der evangelische Theologe Kurt Rommel hinsichtlich einer Familienspiritualität sagte, auch für die angemessene Feier des Heiligen Abends:

„Jede Familie muss ihre Form selbst finden. Und sie findet sie, wenn sie sucht.“

Guido Fuchs