Was Kinder brauchen und Eltern können

Politiker, Pädagogen, die Werbung für Pillen und Policen: Aus allen Ecken schallen Eltern Appelle an ihre Verantwortung für das Wohl ihrer Kinder entgegen. Was gehört dazu?

 

Den Satz kennen alle: Eltern haften für ihre Kinder

Ganz klar: Wenn der Nachwuchs Nachbars Fenster mit dem Fußball zertrümmert, müssen die Eltern für den Schaden aufkommen. Neben diesem außerfamiliären Aspekt betont die Gesetzgebung in jüngster Zeit immer stärker den binnenfamiliären: Eltern haften ihren Kindern. Das Verbot „entwürdigender“ Erziehungsmaßnahmen ist dafür das markanteste Beispiel.

Solche gesetzlichen Bestimmungen entspringen den Vorstellungen einer Gesellschaft vom „Wohl des Kindes“ – davon, was es für seine körperliche Gesundheit und seine Entwicklung zu einer emotional stabilen und sozial verantwortlichen Persönlichkeit braucht.

Einige dieser Grundbedürfnisse von Kindern sind in hoch entwickelten Gesellschaften in der Regel gewährleistet. Nahezu jedes Kind hat ausreichend zu essen; es ist in irgendeiner Form in ein Zuhause eingebettet und bekommt eine grundlegende Schulbildung. Für die Kinderärzte T. Berry Brazelton und Stanley I. Greenspan, zwei renommierte amerikanische Kindheitsforscher, kann sich die Sorge für das Wohl der Kinder allein darin jedoch nicht erschöpfen – erst recht nicht in hoch entwickelten Ländern wie den USA oder Deutschland.

Grundbedürfnisse von Kindern

Die beiden Autoren beschreiben „Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern“ so (in ihrem gleichnamigen Buch im Beltz-Verlag):

1.         das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen

Liebevolle Beziehungen, die von Erwachsenen gestaltet werden, sind geprägt von emotionalem Vertrauen. Eine fürsorgliche Atmosphäre fördert die emotionale Entwicklung des Kindes.

2.         das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation

beinhaltet den Schutz vor Alkohol und Nikotin im Bauch der Mutter, die Vermeidung demütigender Strafen und auch den Anspruch auf ausgewogenen Ernährung bis hin zu einer umfassenden pädiatrischen Versorgung.

3.         das Bedürfnis nach Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind

Es geht um die Annahme von Kindern, so wie sie sind, damit sie ihr Potenzial verwirklichen können.

4.         das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen

Für die Eltern bedeute das unter anderem die Verpflichtung, „eine ganze Bandbreite“ von Gesprächen, Spielen, Interessen und (Freundschafts-) Beziehungen zuzulassen und dafür Zeit zu investieren, für die Schule einen Verzicht auf Noten

5.         das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen

Die „Grenzen und Strukturen“ dienen zusammen mit dem elterlichen Vorbild der Herausbildung eines inneren Wertsystems; daraus sollen Kinder einerseits Sicherheit und Stärke und andererseits Selbstdisziplin und soziale Verantwortung gewinnen.

6.         das Bedürfnis nach stabilen, unterstützenden Gemeinschaften und nach kultureller Kontinuität

Dahinter steht ein tieferes Bedürfnis nach Orientierung, in dem auch die Frage nach einer religiösen Fundierung ihren Platz hat.

7.         das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit

Eltern sowie Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft sind in der Pflicht, Rahmenbedingungen zu schaffen, die von Nachhaltigkeit geprägt sind.

Allein ein Blick auf die beiden letzten Bedürfnisse macht klar: Diesen Katalog zu erfüllen übersteigt die Kräfte von Eltern. „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“, heißt es in Afrika. Auf diesem Hintergrund wirken viele Appelle an die Verantwortung von Eltern beinahe verlogen. Sie sollen, bitteschön, die Erziehung ihrer Kinder nicht den Kindergärten und Schulen überlassen – während die Mittel für Familienbildung und -beratung gekürzt werden? Sie sollen dafür sorgen, dass die Kinder mehr lesen und weniger fernsehen – während da, wo früher die Zweigstelle der Stadtbücherei war, gerade eine Videothek einzieht?

Je weiter sich der Horizont und der Aktionsradius von Kindern über die Grenzen der Familie hinaus ausdehnen, desto stärker wird der Einfluss von Miterziehern und desto mehr treffen sie ihre eigenen Entscheidungen. Für die Verantwortlichkeit von Eltern gilt deshalb wie für den Engel in der Parabel:  

Sie verkaufen nur Samen, keine Früchte.

Josef Pütz/Peter Ulrich